Unter diesem Leitwort begrüßte Schulleiter Michael Hilbk den renommierten Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff. Zugleich richtete er seinen Dank an den Förderkreis des AHG, der zu diesem Vortrag eingeladen hatte und mit Dr. Winterhoff einen Experten gewinnen konnte, der besonders mit seinem zuletzt erschienenem Werk „Die Wiederentdeckung der Kindheit“ dazu anregt, sich Fragen zu stellen, um unsere Kinder und Jugendlichen besser zu verstehen.
Winterhoff begann mit der These „Kinder brauchen uns mehr denn je!“, die beinhaltet, dass Kinder Erwachsene brauchen, die ihnen ein stabiles und ausgeglichenes Gegenüber sind. Dazu gehört entscheidend, dass Erwachsene ihre Rolle als Erzieher_in tatsächlich wahrnehmen und anleiten und begleiten und Entscheidungen vertreten, die sie selber fällen, statt diese einem Kind zu überlassen.
Diesen Sachverhalt illustrierte Winterhoff stets mit Beispielen aus seinem beruflichen Alltag und verdeutlichte damit die Unterschiede im Verhalten von Kindern und Jugendlichen, die bis zur Mitte der 90er Jahre aufgewachsen sind mit denen, die ab etwa 1995 bis heute groß werden. Das auffällige Verhalten zeige sich darin, dass junge Erwachsene große Schwierigkeiten haben im sozialen und emotionalen Bereich, wie zum Beispiel Pünktlichkeit, Ausdauer, Frustrationstoleranz oder auch die mangelnde Fähigkeit, Prioritäten zu setzen. Dieser Wandel im Verhalten von Kindern und Jugendlichen hängt für Winterhoff damit zusammen, dass die Entwicklung der Psyche dieser Kinder und späteren Erwachsenen auf der Stufe eines etwa 10-16 Monate alten Kindes stehen geblieben ist. Die Entwicklung der Psyche ist ein Hirnreifungsprozess und geschieht nicht durch Erziehung, sondern dadurch, dass Kinder Erfahrungen machen. Werden den Kindern – unbewusst und immer in dem Ansinnen, das Beste für sein Kind zu wollen – die Erfahrungen genommen, dann wird ihnen damit die Möglichkeit der Weiter-Entwicklung der Psyche genommen und diese stagniert. Die Ursachen für den Wegfall der Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen, erklärte Winterhoff damit, dass Eltern/ Erziehende in eine symbiotische Beziehung mit dem Kind gerutscht sind. Sie nehmen das Kind nicht mehr als eigenständig wahr, sondern wie einen Körperteil ihrer selbst. Zudem lässt sich in den Familien feststellen, dass eine Umverteilung der Macht stattgefunden hat. Kinder werden wie kleine Erwachsene gehandhabt und in eine Rolle gezwängt, in der sie Entscheidungen zu treffen haben, die weder angemessen noch altersgemäß sind, während Eltern die Rolle des orientierungslosen Kindes eingenommen haben. Jedoch ist in wesentlichen Entscheidungsprozessen der Erwachsene gefragt, der entscheiden sollte. Orientierung, Rahmenbedingungen und Regeln bieten Verlässlichkeit und Sicherheit. Das genau ist der Nährboden für Kinder, um Erfahrungen machen zu können, die das Gehirn reifen lassen und damit einhergehend die Psyche wachsen kann.
Dr. Winterhoff beließ es nicht dabei, das Dilemma überforderter Eltern und verhaltensveränderter Kinder zu beschreiben und zu erklären. Sondern er formulierte den Auftakt seiner Lösung mit dem Satz: Diese Kinder müssen wir dringend sehen. Das Sehen funktioniert dann, wenn der Erwachsene in sich selbst ruhen kann, entspannt ist und aus dieser Art, in sich zu ruhen, Heranwachsenden begegnen kann. Die praktische Umsetzung, um diesen Zustand zu erreichen beschrieb Winterhoff mit einem Waldspaziergang, alleine, ohne irgendwelche technische Ablenkung oder Erreichbarkeitsmöglichkeiten. Das sind Grundvoraussetzungen, um die Erfahrung von Ruhe und Einklang machen zu können.
Aus dieser Haltung heraus muss mit den Kindern personenzentriert gearbeitet werden. Dabei geht es immer wieder um das reale Gegenüber, der/ die dem Kind Orientierung bietet und dem Kind durch Haltung, Anrede und Körpersprache signalisiert: Ich sehe dich!
Wer im Anschluss des Vortrages das Thema vertiefen wollte, hatte die Möglichkeit am Büchertisch der Buchhandlung Lesezeit Literatur von Dr. Winterhoff zu erwerben und diese von ihm signieren zu lassen.
In den Gesprächen und der Atmosphäre des gelungenen Abends war spürbar geworden, dass sich die Zuhörenden ansprechen ließen und den Thesen des Kinder- und Jugendpsychiaters äußerst offen begegnen konnten. Herzlichen Dank an den Förderkreis und die Elternpflegschaft, die diese aktuelle Thematik einer breiten Öffentlichkeit präsentieren konnten.